Mittwoch, 18. November 2015

Marius


Es gäbe viele Gründe zu sagen, dass Marius und seine Geschichte nicht auf diese Seite passen. Seine Familie und er wohnen in Dortmund. Im Gegensatz zu Jojo, der seit 17 Jahren auf der Straße lebt, hat Marius eine Wohnung. Und auf den ersten Blick ist die Geschichte von Marius eine Geschichte, wie er sie möglicherweise mit vielen anderen Menschen teilt. Aber macht es sie deswegen weniger spannend? Nein! Und dass Marius nicht in Münster lebt, das stimmt auch nur teilweise. Denn er ist fast jeden Tag hier. Und wer abends durch den Hamburger Tunnel am Hauptbahnhof geht, der kommt früher oder später an Marius vorbei. Für mich gehört Marius dazu.
Bevor ich ihn überhaupt sehe, höre ich die Musik seines Akkordeons. Die Lambada-Melodie hallt durch den gesamten Tunnel, ich mag es.
Trotzdem - ich wollte den Tunnel einfach nur durchqueren, mir auf der anderen Seite eine Cola holen und dann mal sehen. Als ich auf seiner Höhe bin, treffen sich unsere Blicke. Man sagt mir nach, ich würde manchmal etwas grimmig dreinblicken. Aber Marius lächelt mich trotzdem an. Einfach so! Könnt Ihr Euch daran erinnern, wann Ihr das letzte Mal durch die Stadt gelaufen seid und Euch jemand einfach so angelächelt hat? Ohne Grund. Einfach, weil sich Blicke treffen. Ich glaube, das passiert einfach sehr selten. Marius hat es getan und damit meine Neugier geweckt.
Als er bemerkt, dass ich gerne mit ihm reden würde, unterbricht er sein Spiel. Bei der Begrüßung bemerke ich, dass er nur gebrochen deutsch spricht. Aber es reicht letztendlich, um ihm mein Anliegen zu erklären. Seine Stimme ist ruhig und er wirkt schüchtern. Anfangs ist er noch etwas misstrauisch und vielleicht ist ihm auch noch nicht richtig klar, worauf ich hinaus möchte. Nach kurzer Zeit aber huscht immer mal wieder ein Lächeln über Marius' Gesicht und er wird lockerer. Ich finde ihn auf Anhieb unglaublich sympathisch! Und dennoch merkt man ihm die ganze Zeit über an, dass -so sehr er das Gespräch und das Interesse genießt- er gerne schnell wieder Akkordeon spielen möchte.
Marius ist 25 Jahre alt und gebürtiger Rumäne. Er kam in Bacău, 2000 Kilometer von Münster entfernt zur Welt. Dort hat er auch die Schule besucht. Vom siebten bis zum 15. Lebensjahr. Eine Ausbildung, oder ein Studium im Anschluss gab es nicht. Er wohnte bei seinen Eltern, über die wir im Laufe des Gespräches öfter reden.
Im Jahr 2004 kommt Marius mit seiner Mutter nach Frankfurt am Main. Aber seine Mutter, so verstehe ich es, findet das erhoffte Glück nicht und kehrt bald zurück nach Rumänien. Marius hingegen bleibt bis 2008 in Frankfurt. Dann zieht es ihn in die Niederlande. Dort wohnt inzwischen sein Vater. "Ja, seine Eltern seien immer noch verheiratet.", antwortet Marius auf meine Frage. Sein Vater ist auch Musiker, erzählt er mir. Er spiele Trompete - so hätten sie jahrelang gemeinsam auf der Straße Musik gemacht.
Vor acht Jahren lernte Marius im Urlaub in der Heimat seine heutige Ehefrau kennen. Geheiratet haben sie damals in Rumänien, aber ihre Familie wohnt mittlerweile ebenfalls in Deutschland. Stolz erzählt mir Marius, dass er und seine Frau inzwischen zwei Söhne miteinander hätten und er zeigt mir seinen Ehering.
Ich frage ihn, ob er von der Musik leben könne und ob er vorher schon etwas anderes versucht habe. Marius erzählt mir, dass er tagsüber noch an einem anderen Ort spiele und dann am frühen Abend im Hamburger Tunnel beginnen würde. Seine Frau und er bekommen Kindergeld und er hat einen "Minijob", erzählt Marius. Mit der Musik verdient er sich etwas dazu.
 Er habe mal ein Diplom für eine Tätigkeit als Fensterputzer gemacht, erzählt er. Aber einen Job? Nein, den hätte er nicht bekommen. Als ich nachfrage merke ich, dass er unglaublich gerne einen Beruf ausüben würde. Ich denke, Marius liebt die Musik und dass die Menschen ihm dabei zuhören. Aber noch mehr würde er es wohl lieben, wenn er nicht erst jeden Tag am späten Abend bei seiner Familie wäre. Denn in Dortmund kann er seine Musik nicht machen. Dort sei die Konkurrenz zu groß, sagt er.
Ich muss an Jojo, den Obdachlosen denken, der schön öfter auf der Straße "zerlegt" wurde und frage Marius, ob ihm das auch passieren würde. Dass Leute ihn anpöbeln, angreifen, oder sein Geld nehmen. Seine Antwort lässt vieles offen. Mein persönlicher Eindruck ist, dass er diese Kehrseiten mit einkalkuliert und akzeptiert hat. Ob ihm tatsächlich jemals etwas in der Art passiert ist... Ich weiß es nicht. Aber Marius versichert mir, er würde sich in Deutschland sehr sicher fühlen und der Einzige, vor dem er Angst habe, sei Gott. Marius ist orthodox erzogen und sehr religiös. Mit seiner Frau und seinen Kindern geht er jeden Sonntag in die Kirche. Vielleicht ist es auch dieser tief verwurzelte Glaube, der ihn nicht mit dem Finger auf andere zeigen und schnell vergeben lässt.
Ich merke, dass Marius ungeduldig wird. Zeit ist Geld für ihn, das kann ich ihm nicht verübeln. Zu gerne hätte ich mich noch weiter mit ihm unterhalten und mehr über ihn erfahren. So bleiben Fragen offen und Dinge ungesagt. Zum Schluss frage ich ihn, ob seine Kinder überhaupt ihre Großeltern kennen würden. "Ja, wir sehen uns alle regelmäßig." sagt Marius lächelnd. Ich bin schon wieder beeindruckt. Den ganzen Tag steht dieser Mann auf der Straße, spielt auf seinem Akkordeon und tänzelt dazu lächelnd von einem Fuß auf den anderen. Zuhause warten seine Frau und seine zwei Söhne. Keine Spur von Missmut, sondern echte Zuversicht, Freude und Höflichkeit, wie man sie nur allzu selten erlebt.
Ich mache noch einige Fotos von Marius, dann lege ich ihm zum Abschied die Hand auf die Schulter und lasse ihn spielen. Widerwillig, das gebe ich zu. Und doch habe ich einmal mehr einen Menschen getroffen, der uns ein Beispiel sein kann, wenn wir es denn wollen.

Danke Marius, für deine Zeit und die Zuversicht!
































































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