Mittwoch, 28. Oktober 2015

Jojo

Es ist später Nachmittag.
Ich ziehe schon einige Zeit durch die Stadt. Die Kamera in der Hand, die Augen suchend. Ich suche ihn, sie... Ich weiß es eigentlich nicht. Wenn ich ehrlich bin, dann suche ich möglicherweise auch den Mut, überhaupt jemanden anzusprechen.
Wie soll das gehen? Was soll ich nur sagen?
Ich bin nervös, die Sonne geht gleich unter und ich will es morgen nochmal versuchen. Mit einem Plan in der Hinterhand, einem Konzept, möglicherweise schon einem fertigen Bild im Kopf.
Um den Frust etwas zu dämpfen, versuche ich noch ein paar coole Schnappschüsse zu produzieren. Ich drehe mich hin und her, drücke drei, vier Mal den Auslöser und bleibe dann mit dem Blick am Eingang der Lambertikirche hängen.
Der Typ, der dort neben der Tür auf seinem Rucksack kauert, die Knie angezogen und den Blick gesenkt, macht mich neugierig.
Ich beobachte ihn eine Weile - denke darüber nach ihn direkt anzusprechen. Wieder traue ich mich nicht.
Auch wenn er sitzt, kann man deutlich erkennen, dass er ein ganz schöner Hüne ist. Seinen Kopf ziert ein Tuch mit Totenköpfen und unter seiner Lederjacke trägt er mindestens noch einen Pullover und ein Hemd. Kein Wunder, es wird empfindlich frisch.
Eine ältere Dame geht auf den Eingang zu. Da springt der Typ plötzlich auf, öffnet ihr die Kirchentür und setzt sich direkt wieder. Ich muss lächeln. Das Spiel wiederholt sich einige Male. Ein Mann mit Rollator, eine Dame mit Kinderwagen... Der Hüne steht auf, öffnet die Tür, kommt zurück und setzt sich wieder. Der Entschluss ist gefasst, ich will ihn kennenlernen.
"Entschuldigung, kann ich Sie kurz stören?" "Sicher.", ist seine kurze, aber höfliche Antwort.Ich hocke mich neben ihn und versuche ihm ziemlich wackelig und unbeholfen mein Anliegen zu vermitteln.
Ob das für ihn in Ordnung wäre...?
Ein bisschen von sich erzählen...
Ein paar Bilder machen vielleicht auch?
"Sicher, warum nicht!" Wieder kurz, aber höflich und mit einem sympathischen Lächeln. Auf meine Frage, wie sein Name sei, erklärt er, auf der Straße würde man ihn Jojo nennen. Ich frage nicht nach seinem richtigen Namen, verrate ihm meinen und biete ihm, obwohl er älter ist, das "Du" an. Er willigt ein, bis dahin hat er mich gesiezt. Er entschuldigt sich, steht auf und geht ein paar Schritte zur Seite. Dann holt er eine selbst gedrehte Zigarette raus und zündet sie an. Müsse ja nicht direkt vorm Eingang sein, erklärt mir Jojo. Dann fängt er an zu erzählen. Jojo ist 44 Jahre jung und gebürtig aus Thüringen. Gelebt hat er aber die meiste Zeit in Rheinland-Pfalz. Dort hat er eine Ausbildung zum Zimmermann gemacht, seine damalige Frau kennengelernt und geheiratet. Mit seiner Frau und deren Mutter habe er in seinem Haus gewohnt, bis vor 17 Jahren alles in die Brüche ging. Dann wäre alles gelaufen, wie es zahlreiche Klischees beschreiben würden. Den "klassischen Penner" nennt sich Jojo selbst. Erst Job, dann auch die Frau verloren. Die Schwiegermutter sei nicht ganz unschuldig, sagt er. Es entsteht eine Pause.
Ich versuche im Kopf die nächste Frage zu formulieren, da unterbricht mich Jojo: "Ich mach jetzt mal knallhart den Obdachlosen.", sagt er. "Haste gleich trotzdem noch 'nen Eu?" 
Ich muss lachen, der Kerl hat gelernt, sich durchzuschlagen. Statt direkt das Kleingeld in die kleine Schüssel neben seinem großen, schwarzen Rucksack zu befördern, schlage ich Jojo vor, kurz loszugehen und uns einen Kaffee zu besorgen. Seine Augen fangen an zu leuchten, er freut sich tierisch. Also mache ich noch schnell zwei, drei Bilder von ihm, dann stapfe ich los und lasse ihn mit seiner vierten Kippe seit Gesprächsbeginn allein. Im Weggehen überlege ich, ob er überhaupt glaubt, dass ich zurück komme... Beim Kaffeeröster um die Ecke kaufe ich zwei große Kaffee und ein Stück Käsekuchen. Jojo hat mir erzählt, das Wichtigste für ihn wären Nahrung und Kippen. Ein Päckchen Tabak würde er pro Tag verbrauchen. Er bettelt nie, nimmt nur was die Leute ihm freiwillig geben. Das glaube ich ihm sofort.
Jojo will nicht nerven, Jojo will nett sein. 
Als ich mit Kaffee und Kuchen zurück zur Kirche komme, ist ihm deutlich anzumerken, dass das ganz und gar nicht alltäglich für ihn ist. Ihm fehlen ein wenig die Worte, so wie mir zu Beginn unserer Bekanntschaft. Ich freue mich darüber, dass er sich über den Kaffee freut und muss grinsen, als er sich trotzdem lieber erst noch eine Kippe dreht. Als Jojo vor 17 Jahren keine Perspektive mehr für sich sah, hat er sich seinen Labrador geschnappt und ist einfach losgezogen. All sein Hab und Gut sei in dem schwarzen Rucksack, erzählt er. Oben drauf noch eine Iso-Matte, der Rest im Innern verstaut. Ich frage nicht, was er alles dabei hat, will auch nicht in den Rucksack sehen. Das ist wohl das letzte bisschen Privatsphäre, das Jojo noch hat. Ein schwarzer, abgewetzter Rucksack mit Iso-Matte. Sein Labrador ist vor ein paar Monaten gestorben. Seitdem ist Jojo allein unterwegs. Er sei ohnehin Einzelgänger und einen neuen Hund will er nicht. Den würde er dann immer mit seinem alten vergleichen. Wie könnte es anders sein, wenn man über 15 Jahre seines Lebens nur mit einem Hund auf der Straße verbracht hat... Dann finde ich heraus, dass Jojo eigentlich nur auf der Durchreise ist. Er sei immer mal wieder in Münster, aber eigentlich lässt er sich überraschen, wohin es ihn verschlägt. Nur Bayern, das geht gar nicht, sagt er. Die wären da einfach zu komisch. Mit den Münsteranern könne er wenigstens noch reden. Sein letzter Besuch in Münster ist immerhin sechs Jahre her. Aber nun ist er hier, also gehört er auch dazu! Ich frage ihn, was aus seinem Haus geworden sei. Er weiß es nicht. Und es ist ihm auch egal, sagt er. Er habe sich einfach nicht mehr darum gekümmert. Die Einzige, zu der er noch Kontakt hat, ist seine Mutter. Da muss er auch bald mal hin, sagt Jojo. Mama wird nämlich 70 und das wäre ja dann Pflicht. Wieder muss ich schmunzeln. Dann frage ich Jojo, was er macht wenn er krank wird. Das Thema ist allerdings schnell abgehakt. Klar, er war schon oft krank, sagt er. Und "zerlegt" wurde er auch schon so einige Male. Einmal habe man ihn sogar nachts samt Schlafsack in die Weser geworfen. Und vor einigen Tagen haben sie ihn auch in Münster "zerlegt", erzählt er mir. "Aber so ist das halt. Bevor ich den Kopf nicht unter dem Arm trage, gehe ich auch nicht ins Krankenhaus." Ich frage mich, ob das der Stolz eines Kerls ist, der schon Schlimmeres erlebt hat, oder ob Jojo einfach niemandem zur Last fallen möchte. Unser Gespräch wird immer wieder unterbrochen. Jojo muss vielen Leuten die Tür öffnen. Das würde sich ja wohl so gehören und sei für ihn das Mindestmaß an Anstand, kommentiert er sein Tun. Zum Abschluss erzählt er mir noch, dass er sogar eine Anschrift hier in Münster hätte, ihm das aber auch ziemlich egal sei. Ich glaube nicht, dass Jojo jemals nach seiner Post gesehen hat. Ein altes Handy hätte er, ohne Internet und solchen Schnickschnack. Aber er ist froh, dass er für seine wenigen Bekannten überhaupt erreichbar ist. Dann verabschiede ich mich von ihm. Er ist traurig darüber, das kann er nicht verstecken. Aber Jojo ist auch dankbar. Sehr sogar! Als ich gehe bin ich froh, ihn kennengelernt zu haben. Es hat mich ein paar Minuten und einen Kaffee gekostet. Aber es erweitert den Horizont ungemein. Und auch, wenn der gute Jojo vielleicht so manches kleine Detail nicht erzählt, oder ein anderes beschönigt hat, so legt er sich heute Nacht doch wieder auf seine alte Iso-Matte und muss aufpassen, dass er nicht im Schlaf "zerlegt" wird. Ein bisschen hat er sich diesen Weg ausgesucht, sagt er selbst. Tauschen möchte ich nicht mit ihm. 
Aber vielleicht ist seine Welt manchmal trotzdem ein klein wenig ehrlicher als unsere. 

Danke Jojo

1 Kommentar:

  1. Sehr schön geschrieben man hat das Gefühl man war bei dem Gespräch dabei. Ich war von diesem Bericht gefesselt. Dem Jojo wünsche ich alles Gute und hoffe er findet weiterhin seinen Weg.

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